Worüber Sie in diesem Artikel lesen:
- Lebenshilfe für Gewalt-traumatisierte Frauen in Bosnien-Herzegowina
- Krieg ist immer Gewalt gegen Frauen
- Unterstützung und Existenzsicherung durch ein integratives Konzept
- Umfassende Qualifizierung der betreuten Frauen
- MEDICA ist nun auch in den Dörfern
- Unterstützung beim Übergang in die Selbstständigkeit
- Die mittelfristige Zukunft des MEDICA Ausbildungszentrums ist ungewiss
- Warum unterstützt die LL-Stiftung das Projekt MEDICA?
Lebenshilfe für Gewalt-traumatisierte Frauen in Bosnien-Herzegowina
Anfang der 90er Jahre rüttelten Berichte aus Bosnien (Jugoslawien) auf: Sarajevo belagert und unter Beschuss; das Massaker von Srebrenica; Konzentrationslager; systematische Massenvergewaltigungen von Frauen als Teil der Kriegsstrategie.
Die Kölner Gynäkologin Monika Hauser – 2008 mit dem „Alternativen Nobelpreis“ bedacht – gründete 1993 in der bosnischen Stadt Zenica das Therapiezentrum Medica Zenica für kriegstraumatisierte Frauen, Überlebende sexualisierter Gewalt, und ihre Kinder. Mitten
im Krieg arbeiteten kroatische, serbische und bosniakische (muslimische) Bosnierinnen weiterhin zusammen. Dieses Miteinander ist,neben dem ganzheitlichen und inter-
disziplinären Ansatz, bis heute eine wesentliche Grundlage von MEDICA.
Krieg ist immer Gewalt gegen Frauen
Organisierte Gewalt und Folter hinterlassen tiefe innere Verletzungen der Seele und Persönlichkeit, auch transgenerational bei nachfolgenden Generationen. Das Beziehungsgefüge der Gesellschaft und das Vertrauen in diese bricht auseinander. Schamgefühle und die Tabuisierung sexualisierter Gewalt gegen Frauen erschweren die Überwindung der traumatischen Erfahrungen.
Zwanzig Jahre nach Beendigung der Kriegshandlungen (1992-1995) brauchen die damals jungen Mädchen und Frauen noch immer Hilfe. Sie sind als Flüchtlinge und Rückkehrer-
innen, als Aussagende im Den Haager Kriegstribunal, mit dem Erlebten immer wieder konfrontiert (Retraumatisierung). Die Gesellschaft dieses Vielvölkerstaates leidet seit 1995 unter den Nachkriegsfolgen: zerstörte familiäre Beziehungen; emotionale, wirtschaftliche und körperliche Gewalt der Männer (erhöhte häusliche Gewalt); Armut und Arbeitslosigkeit; wirtschaftliche Perspektivlosigkeit; die fast unmögliche Versöhnung zwischen den Ethnien (Neuverteilung der Gebiete nach dem Vertrag von Dayton), sowie die neue komplexe, politische und administrative Staatsstruktur.
Unterstützung und Existenzsicherung durch ein integratives Konzept
Die Hilfsorganisation medica mondiale baute zusammen mit bosnischen Frauen das Therapiezentrum MEDICA Zenica auf, um kriegstraumatisierten Frauen zu helfen, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. MEDICA Zenica bietet Frauen Beratung und therapeutische Unterstützung in der Beratungsstelle, Zuflucht im Shelterhouse, Betreuung und psycho-soziale Begleitung für ihre Kinder im angeschlossenen Kindergarten, sowie eine hand-
werkliche Kurzausbildung bzw. ergo-therapeutsche Maßnahmen. Durch persönliche Stabilisierung und berufliche Qualifizierung erhalten die Frauen „Hilfe zur Selbsthilfe“ für ihre persönliche und materielle Eigenständigkeit. Frauen, die Unterstützung bei MEDICA suchen – oder von staatlichen Stellen dorthin vermittelt werden – leiden unter posttraumatischen Folgen sexualisierter Misshandlungen. Sie suchen Schutz vor häuslicher Gewalt, die vor allem auf dem Land sehr präsent ist, oder entfliehen den Netzen des Frauenhandels.
Umfassende Qualifizierung der betreuten Frauen
Bei durchschnittlich weit über 50% Arbeitslosigkeit (60% bei jungen Erwachsenen) in Bosnien-Herzegowina (BiH) haben Frauen und Mädchen am ehesten eine Chance dank einer praktischen, handwerklichen Ausbildung ihre Existenz zu sichern. „Mit einem Kamm und einer Schere in der Tasche verhungerst du nicht …“ (die Ausbilderin der Friseurwerkstatt).
Das Ausbildungszentrum MEDICA Zenica bietet berufsbildende Kurse zur Polsterin oder Schneiderin und zur Friseurin, jeweils mit staatlich anerkanntem Zertifikat. In sechs-
monatigen Ausbildungskursen erarbeiten sich jährlich 30 Frauen und Mädchen das Zertifikat. Ein Viertel nehmen an ergotherapeutischen Maßnahmen teil, Motivierung für eine spätere Ausbildung. Viele Frauen können für die Dauer der Kurse im MEDICA shelterhouse wohnen; ihre Kinder werden tagsüber im Kinderhaus betreut und psychosozial begleitet.
MEDICA ist nun auch in den Dörfern
Seit Anfang 2009 werden zusätzlich Schneiderinnen oder Polsterinnen an zwei ländlichen Standorten ausgebildet; über 60 Frauen zwischen 15 und 55 Jahren waren es 2015. Diese Frauen erhalten zusätzlich Kurse zum „Bewusstseinstraining“ in erzieherisch-therapeutischen Workshops, um mit interfamiliären Konflikten und Gewalt besser umgehen zu können.
Traditionelle, maskuline Rollenbilder, Entzug jeglicher Autonomie für unverheiratete und verheiratete Frauen und geschlechtsspezifische Gewalt sind ein großes Problem. Dank dieser Kurse lernen sich Frauen eines gleichen Dorfes kennen, über ihr Leben sprechen, erleben Solidarität und positive Stärkung ihrer Person und ihrer Fähigkeiten.
Unterstützung beim Übergang in die Selbstständigkeit
Die Mitarbeiterinnen, zum Teil selbst Überlebende von Gewalt, sorgen dafür, dass die Frauen über die berufliche Ausbildung hinaus ihre persönlichen Potentiale wiederentdecken und entwickeln können. Im gewaltfreien Zusammen-Leben, Zusammen-Arbeiten, Konflikte-Lösen, Voneinander-Lernen und in der menschlichen Wertschätzung können Kraft, Mut und Zuversicht für die eigenständige Gestaltung des Lebens wachsen. Medica begleitet die Frauen beim Übergang in die Berufsausübung, hat Abkommen mit Betrieben initiiert und pflegt die gute Zusammenarbeit mit den Arbeitsagenturen.
Die Absolventinnen der Schneider- und Polster-Kurse finden – abhängig vom Standort und wirtschaftlicher Lage – Arbeit in Fabriken oder Werkstätten (z.B. KFZ-Zulieferer, Sitzbezüge). In einigen Städten konnten ehemalige Kursteilnehmerinnen eigene Gewerbe eröffnen. Andere machen mit den erlernten Techniken Heimarbeit.
Die mittelfristige Zukunft des MEDICA Ausbildungszentrums
In der Zusammenarbeit mit der Kommune wurden große Erfolge erzielt. Das Sozialamt stellt seit 2007 „Not-Shelterbetten“ und zwei Therapieräume zur Verfügung. In 2008 erreichte MEDICA kostenlose, medizinische Versorgung und Untersuchungen im Zenica Krankenhaus für die im Shelterhouse aufgenommenen Frauen und Kinder (37). 2009 hat sich die Zahl verdoppelt (61), was ein Indikator für die verschlechterte wirtschaftliche Situation ist.
Frauen sind von der Arbeitslosigkeit direkt betroffen, aber auch indirekt durch ihre arbeitslosen Männer und vermehrte häusliche Gewalt. In der wirtschaftlich prekären Lage nimmt das Gewaltpotential in Gesellschaft und Familie zu! Durch die finanzielle Förderung und mehrere Kooperationen dokumentieren sowohl die Stadt Zenica als auch der Kanton (UNDP) den Stellenwert der Angebote von MEDICA Zenica, das jedoch auch zukünftig von den Fördermitteln verschiedener internationaler NGO’s abhängig bleiben wird.
Die Mitarbeiterinnen kämpfen Jahr für Jahr darum, die Arbeit im MEDICA Ausbildungs-
zentrum fortführen zu können. Sie kämpfen dabei auch um ihre eigene wirtschaftliche Existenz und die ihrer Familien, die von ihren Einkommen abhängig sind. In Kooperation mit anderen Organisationen bringen sie ihre Erfahrung und dieses erfolgreiche Konzept ein, damit mehr Frauen die Chance erhalten, durch Ausbildung und psychosoziale Begleitung die Folgen von Gewalt und Trauma zu überwinden und ihre wirtschaftliche und persönliche Existenz zu sichern.
Warum unterstützt die LL-Stiftung das Projekt MEDICA?
„Als Projektpatinnen engagieren wir uns für das Ausbildungszentrum MEDICA Zenica in Zentralbosnien, weil wir uns betroffen fühlen von dem Wissen, dass Frauen sexualisierte Gewalt, zusätzlich zur körperlichen Entwürdigung, als Psychotrauma erleben, und ohne professionelle Unterstützung kaum Chancen auf Überwindung ihrer traumatischen Erlebnisse haben. Wir sind beeindruckt von der Solidarität und Kraft dieser Frauen, die sich unermüdlich dafür einsetzen, für sich,für ihre Familien und Gemeinden Versöhnung, friedliches Zusammenleben, wirtschaftliche Eigenständigkeit und Perspektiven zu entwickeln. Während verschiedener kurzer Arbeitsreisen in Bosnien-Herzegowina konnten wir uns davon überzeugen, welch‘ eine notwendige und integrative Aufgabe das Shelterhouse, das Beratungs- und Therapiezentrum, der Ausbildungsbereich und die Infoteka erfüllen.
Wir schätzen und würdigen, welch großen Einfluss MEDICA zur Konfliktbewältigung, Aus-
söhnung der Ethnien und für Bewusstseinswandel ihn Bosnien-Herzegowina hat, durch Dokumentations-, Informations-, Fortbildungs- und Lobbyarbeit im ganzen Land. In Zusammenarbeit mit den geistlichen Führern aller religiösen Gemeinden warb MEDICA für Toleranz und Verständnis, um Tabuisierung und Diskriminierung der Frauen und ihrer durch Vergewaltigung gezeugten Kinder abzubauen. MEDICA bildet dafür Lehrer, Erzieher, Polizisten, Richter, Anwälte und Sozialarbeiter fort. Durch Kooperation und Vernetzung erreichte MEDICA zusammen mit anderen Organisationen die Anerkennung der kriegs-
traumatisierten Frauen als Kriegsopfer. MEDICA begleitet und unterstützt Frauen, die als Zeuginnen vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag aussagen.“
Margit Leitz und Ute Leitz
Projektpatinnen MEDICA
Weitere Informationen unter www.medicazenica.org und unter www.medicamondiale.org.
Wer mehr wissen will zur Geschichte der Einrichtung des ersten MEDICA Therapiezentrums in Zenica (BiH), zu den Anfängen und Erfahrungen in der Trauma-therapeutischen Arbeit und zur Gründung von medica mondiale e.V. in Köln, dem sei das Buch von Monika Hauser „Nicht Aufhören anzufangen“ ans Herz gelegt (Verlag rüffler & rub).
Stand: Juli 2016